Zum Inhalt springen

Die Wurstrolle

Bruder, diese Geschichte ist für Dich. Denn Du warst meist der Leidtragende. Der Protagonist, der immer einstecken musste.

Wer jetzt an etwas Fleischiges denken mag, dem sei gleich gesagt, er liegt völlig falsch.

Also der Hinweis an Veganer, Vegetarier usw: ihr könnt weiterlesen.

 

Die Wurstrolle ist ein Utensil, was wir beide wechselseitig für ein Spiel benutzt haben.

Eigentlich ist sie Bestandteil von drei Schaumstoff-Matratzen: die Nackenrolle.

Handgenäht von meinem Vater.

Sie wurde aber von uns missbraucht.

Um den Reiz des Spiels zu verstehen, bedarf es einiger Erklärungen.

 

Unsere beiden Zimmer lagen direkt nebeneinander. Nur eine Tür trennte beide Reiche.

Diese Tür hatte eine Besonderheit. Sie war lange Zeit zugebaut. Auf der Kinderzimmer-Seite stand ein Schrank davor; die andere Seite (mit dem Türrahmen) wurde von den Eltern als Regal genutzt.

Als wir ein Zimmer der Nachbarwohnung als vierten Raum dazu bekamen, wurde die Tür wieder geöffnet ‒ und wir hatten jetzt jeder ein Kinderzimmer. Die ramponierte Tür schrie nach einer Verjüngungskur. Vater kam eines Tages mit einer Art Fön an, der die Farbe erwärmte und es so möglich machte, sie abzuschaben.

Wir Kinder hatten daran viel Freude. Besonders der Gestank der Farbe und des verkohlten Holzes lag nach lange in der Nase.

Die Türschwelle war die Demilitarisierte Zone.

In dem Zimmer von David gab es zu dem Zeitpunkt noch einen größeren Tisch, der längsseits in den Raum hineinragte. Dem Tisch gegenüber an der Wand befand sich der Ofen, der im Winter mit Kohle befeuert wurde. Kaum vorstellbar, dass mein Vater, wenn wir Winter hatten, den (und drei weitere) jeden Morgen anfeuern musste. Asche raus, Kohle rein.

Ich hab das ein oder andere Mal aus dem Schuppen, wo die Kohle lagerte, den einen oder anderen Eimer hochgetragen. Die Männer, die die Säcke im Herbst anschleppten, waren

rabenschwarz. Nur das Weiß der Augen machte sie menschlich. Ich fand sie immer gespenstisch.

Der Ofen hatte eine Klappe, hinter der ein kleiner Stauraum war. Die Eltern nutzen den gerne, um Teile des Essens warm halten zu können.

 

Der Ofen lud zum Klettern ein und war natürlich Bestandteil des Spiels. Links neben dem erwähnten Tisch an der Wand befand sich ein Holzfenster, das den Raum mit Licht füllte. Davor war das Bett.

Zwischen Bett und Tisch war der kreative Bereich von David. Sein Schreibtisch.

Sprachrohr für seine Kreativität.

 

Mein Zimmer hatte am anderen Ende auf gleicher Achse auch ein Fenster. Davor das Bett, was sich hochklappen lies, um mehr Platz zu schaffen. Mein Bett war damals voller Garfield-Aufkleber ‒ aus dem Einwickelpapier der Fritz Kaubonbons. Garfield, ihr erinnert euch, war die fette, fleischgewordene Katze mit Odin als treudummem Gefährten.

Links neben dem Fenster war ein alter Rollschrank. Der stand früher im Flur und beherbergte den Schlüssel der Wohnzimmertür. Die Eltern schlossen gerne mal das Wohnzimmer ab, um unseren Fernsehkonsum einzuschränken, wenn sie abends auswärts waren.

Der Schrank ließ sich aber spielend mit einer gebogenen Rouladennadel öffnen.

Nun stand er aber in meinem Zimmer. Daneben eine Ledercouch aus braunem Leder, von der Wohnung meiner Oma aus Halle an der Saale.

Schräg gegenüber war meine Computerecke. Bestehend aus einem Holzbock auf dem mein erster Apple stand. Ein Apple LC 475. (nein, kein Performa)

Hinter mir war mein Schreibtisch und zwischen PC-Ecke und Bett war ein Bücherregal.

Mittig im Raum stand eine AIWA Soundanlage aus der anfänglich RAP, dann Gitarrenmucke und Später EBM lief. Mein Vater befand alles als Holzfällermucke. Passend würde ich (heute) sagen.

 

Die „Wurstrolle“ war eine circa 1,20 lange, mit Schaumstoff-Kugeln gefüllte und mit Stoff ummantelte, rollenförmige „Lagerungshilfe“.

 

Um das Spiel wirklich ausführen zu können, bedurfte es einiger Maßnahmen.

Es durfte nichts dem Zufall überlassen werden.

Gegenstände, die unmittelbar in der Gefahrenzone waren, wurden entfernt, oder verschoben, sodass die Gefahr minimiert wurde, dass etwas zu Bruch geht.

Das Spiel konnte immer gespielt werden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.

In dem Spiel gab es immer ein Opfer. Aufgabe und Herausforderung war es, den Protagonisten in der Opferrolle mit der Wurstrolle niederzustrecken.

Natürlich wurden Maßnahmen getroffen, den Schlag mit der Wurstrolle zu puffern.

Wir bedienten wir uns dem Zwiebelprinzip, das hat sich bewährt.

Dazu dienten zwei Decken und zwei Kopfkissen, die auf dem Kopf abwechselnd aufgeschichtet wurden.

Als beste Art und Weise hat sich Kopfkissen-Decke-Kopfkissen-Decke erwiesen, weil beim ersten Schlag nicht gleich das Kopfkissen von der Rübe fliegen konnte.

War der Leidtragende entsprechend präpariert, konnte es losgehen.

Am meisten Spaß machte das Spiel, wenn beide nichts sehen konnten. Zugegeben: der Benachteiligte war eh immer der, der nichts sehen konnte, weil der Konstrukt aus Daunen und Stoff die Sicht versperrte.

Erschwerend kam hinzu, dass man eigentlich kaum atmen konnte.

Ich platzierte mich meist gerne auf dem Ofen und wartete auf meine Chance.

Was das Ziel des Spiels war? Nun, es gab zwei Aufgaben: Niederstrecken und durchhalten.

Die Wurstrolle war, weil durch das Schleudern das Innenleben zu den Enden rutschte, mittig schon so gut ausgeformt dass eine Kinderhand sie gute wie eine Keule schwingen konnte.

Und dann ging es los. Licht aus und das Spiel begann. Wie wild wurde die Wurstrolle getrieben, bis jemand zu Boden ging. Und wie zu erwarten ging einiges zu Bruch.

Die Schläge durchdrangen den Schutz spürbar. So ein Schlag mit der Wurstrolle konnte schon ordentlich, wenn sie denn den Schädel traf, wirken.

Am gefürchtetsten war der Sprung vom Ofen. Dieser Schlag, richtig platziert, knockte einen schon gut aus. Auch gut war der Querschläger, der unverhofft aus einer Nische im Zimmer erfolgte ‒ oder der Angriff aus dem Hinterhalt. Es war alles erlaubt. Verletzt hat sich aber nie einer.

Einzig Schädelbrummen, aber das war zu erwarten und wurde gerne in Kauf genommen.

Bruder, wann spielen wir die nächste Runde ? J

Published injust me

2 Comments

  1. David (Lil' Bro')

    Brüdi!

    Du hast vergessen zu erwähnen daß:

    a) dies Spiel meist spätabends/nachts betrieben wurde; seltener am Tag
    b) mit LÄRM verbunden war
    c) die Eltern uns unten Anderem deshalb den generellen Verzicht darauf empfohlen hatten
    d) dem Wrestling ähnlich, die Aktionen/Reaktionen mit gerüttelt Pathos versehen waren

    Wenn Du ne’ Runde Wurschtrolle spielen möchtest: JEDERZEIT!
    Müsste aber ne’ lange Rolle sein…
    Für ein Revival würde ich aber eine Outdoor-Variante vorschlagen…

    Achsö: Schreib doch mal was über unsere optische Telegraphie von Bett zu Bett…

    Bussi-Bussi,
    Dein Brö’

    • admin

      Hey Bro,

      ach klar, hab ja noch so einige Geschichten auf Lager 🙂
      Ach ja: Fight im Wald folgt…:)

      Bruder

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website benutzt Google Analytics. Bitte klicke hier wenn Du nicht möchtest dass Analytics Dein Surfverhalten mitverfolgt. Hier klicken um dich auszutragen.