Wer kennt sie nicht, die Gebrüder Grimm. Hunderte von Geschichten haben sie geschrieben.
Ausgerechnet Rotkäppchen sollte mir zum Verhängnis werden.
Ich sitze im Sportunterricht neben meinem Sportlehrer, der etwas verwundert in mein Gesicht blickt. Ich bin keine 12 Jahre alt.
Auf meiner Stirn ist deutlich der blutige Riss zu erkennen, den ich gerade versuche durch eine Lüge zu tilgen. Eine Dummheit, wie sie selten vorkommt, ist Schuld an dem Dilemma.
Da Lügen eine Todsünde ist, bin ich natürlich immer versucht, der Wahrheit recht nahe zu sein, wenn es darum geht, etwas zu verbergen, wo ich mir dann gerne einbilde, dass die Wahrheit vielleicht doch nicht das ist, was situativ des Beste ist.
Sei es drum. Ich begründe die Nachfrage nach der Wunde damit, dass ich behaupte, ein zurückschnellender Zweig, mit Wucht eines Peitschenhiebes, hätte das verursacht.
Ich finde das in dem Moment enorm glaubhaft. Nicky, der neben mir sitzt vergräbt sein Grinsen hinter vorgehaltenen Händen. Er blickt kurz auf. Seine Augen sind feurig rot, tränen laufen die Wange herunter.
Pollenallergie, ganz sicher…..
In Wahrheit ist alles ganz anderes gelaufen.
Ein Sommerlicher Tag unter der Woche. Heiß ist es. Muss wohl zu heiß gewesen sein. Dumme Gedanken sind sicherlich auch dem Wetter zuzuschreiben.
Nicky ist neben Mike einer meiner besten Freunde, die mir seit der ersten Klasse zu Seite stehen. Er ist Teil der Geschichte und mitschuldiger meiner Wunde.
Heute würde ich behaupten, es gäbe keine Langweile. Ganz sicher würde ich das.
Damals haben wir das sicher anders empfunden.
Unser Viertel in Potsdam-West war beschaulich. Verkehrsberuhigte Straßen, Spielplätze, eine Kirche mit Garten, zwei Schulen. Autos konnte man an der Hand abzählen. Kurz nach der Wende sieht man noch deutlich die Misswirtschaft der DDR.
Soziales Wohnen mag sicher eine gute Idee sein, um die Miete niedrig zu halten.
Aber Sanierung war nicht vorgesehen. Und das sah man. An jeder Ecke bröckelte der Putz von den Häusern. Die Straßen waren teils Kopfsteinpflaster, teils Teer.
Die Teerstraßen wurden weich, wenn die Sonne erbarmungslos ihre zerstörerische Kraft spielen ließ. Dann klebte auch gerne mal was am Schuh, oder an den Fensterscheiben der Nachbarhäuser. Wie das da hingekommen ist? Fragt die Kinder! Oder hinterfragt euch einmal selbst.
Unweit von dem Haus, in dem Nicky wohnte, war ein Spielplatz. Eigentlich war es ein ödes Sandloch neben ein paar gespannten Wäscheleinen, aber es genügte, um uns in Dummheiten zu verlieren.
In dem Sandloch offenbart sich im Sand eine Erhebung. Im Sonnenlicht blinkt mattschwarz etwas, was unsere Aufmerksamkeit weckt.
Eine Schallplatte. Dreckig ist sie. Keine vollständige Scheibe, da ein Teil ausgebrochen ist. Auf dem Etikett ist deutlich zu erkennen, dass es sich um eine Pressung von Rotkäppchen handelt.
Keine LP, irgendwas Kleineres. Egal. Ich habe die glorreiche Idee, sie könnte als Frisbee-Scheibe herhalten. Sie fliegt. War nicht anders zu erwarten. Nicht wirklich die gewohnte Eleganz einer richtigen, echten Frisbee-Scheibe. Ja, die gab es auch im Osten, anders als Bananen, klar oder?
Nach ein paar Würfen wird das Spiel ruppiger, da wir versuchen, die Unwucht beim Fliegen mit mehr Kraftaufwand beim Abstoßen der Scheibe zu minimieren.
Plötzlich muss wohl Wind aufkommen sein, und die Scheibe gewinnt gehörigen Auftrieb.
Sie fliegt mit voller Wucht gegen meine Stirn. Ich kippe um und schreie vor Schmerzen. Ein mutiger, aber beherzter Griff an meine Stirn offenbart Bruchstücke der Schallplatte, die in meiner Stirn stecken. Der Schmerz ist höllisch. Blut läuft in meine Augen. Nicky lacht. Und wie er lacht. Ich weiß gerade nicht, was ich lieber täte: Lauter schreien, oder ihm eine abräumen, für sein dummes Gelächter.
Am nächsten Sprenger in einem der naheliegenden Vorgärten „reinige“ ich mir die Wunde an der blutigen Birne, die nun nicht nur blutet, schmerzt und nun auch noch hämmert und pulsiert.
Ein Pflaster ist schnell zur Hand und bedeckt die klaffende Wunde.
Minuten später lässt der Schmerz nach. Was bleibt ist die Erinnerung, und eine Narbe über der rechten Augenbraue.
Aber wie sagt man so schön: Wer Narben hat, der hat was erlebt, und Narben habe ich so einige.
Komisch muss es ja aussehen haben, zugegeben. Als mich ein Bus überfuhr lachte Nicky auch. Auch ist mir in Erinnerung, dass ich weinend in einem Bus der Polizei sitze und heule, und er lacht auch. Nicky lachte überhaupt gerne. Aber das sind andere Geschichten. Die ein andermal erzählt werden.
Hey, nur so zur Info: ich lache nicht nur viel und gerne, aber die Erinnerung mit dem Bus ist etwas verblasst :@ Ich hatte mordsmäßige Angst- Schiss – Sorgen, da war mir mal garantiert nicht nach lachen…
Gruß Nicky
Ach Nicky, das weiß ich doch 🙂
Aber im Bus hast Du Tränen gelacht…Geburtstag mit unschönem Ende..hehe
Schöne Geschichte und gleich kam bei mir die Nostalgie der Jahre vor 1989 wieder hoch.
Liest sich sehr schön.
Hallo Thomas, danke für deinen Kommentar. In den nächsten Tagen stelle ich noch weitere Geschichten online.
Grüße, Vadim
Sehr gute Geschichte
Vielen Dank 🙂